Unterbringung nach § 64 StGB ermöglicht es, süchtige Angeklagte in einer Entziehungsanstalt unterzubringen. Wird jemand zu einer Freiheitsstrafe mit Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt, kann damit nach der Unterbringung oft Strafaussetzung zur Bewährung oder § 35 BtMG beantragt werden. In der Unterbringung nach § 64 StGB sind außerdem Lockerungen möglich, die im normalen Justizvollzug nicht gegeben sind.
Ziel von § 64 StGB ist es vor Allem, die Allgemeinheit davor zu schützen, dass auf Grund der Abhängigkeit neue Straftaten begangen werden. Erst in zweiter Linie geht es um die Therapie und die Probleme des Angeklagten. Maßgeblicher zweck ist also der Schutz der Gesellschaft vor dem Angeklagten.
Voraussetzungen der Unterbringung nach § 64 StGB
Die Voraussetzungen für die Anordnung einer Unterbringung nach § 64 StGB sind:
- Hang zum übermäßigen Konsum von Rauschmitteln
- Hangbedingte rechtswidrige Tat
- Gefahrprognose
- Erfolgsaussicht
Fachanwalt für Strafrecht Grubwinkler ist bundesweit gefragter Spezialist für Betäubungsmittelstrafrecht. Seine Schwerpunkte bilden Handeltreiben und Besitz in nicht geringer Menge, Darknet, Einfuhr, Anbau und Verstöße gegen das NpSG, AMG sowie AntiDopG.
Hang zum übermäßigen Konsum berauschender Mittel
Grundvoraussetzung für die Anwendung von § 64 StGB ist, dass der Angeklagte den Hang hat, Alkohol oder andere Berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen.
Was sind berauschende Mittel im Sinne des § 64 StGB?
Es muss sich bei den berauschenden Mitteln nicht zwangsläufig um verbotene Stoffe oder Betäubungsmittel handeln. “Berauschendes Mittel” im Sinne von § 64 StGB kann jede Substanz sein, die geeignet ist Rauschzustände hervorzurufen (vgl. Fischer Rn. 5). Hier besteht bereits ein Hauptunterschied zur Strafaussetzung zur Therapie nach § 35 BtMG. “Rausch” muss in diesem Zusammenhang nicht bedeuten, dass eine psychische Beeinträchtigung oder Vernebelung auftritt. Auch vorübergehende Steigerung der Leistungsfähigkeit durch Aufputschmittel ist “Rausch” im Sinne des § 64 StGB. Dasselbe gilt, wenn nur noch konsumiert wird, um Entzugserscheinungen zu vermeiden (vgl.Fischer Rn. 6). Es ist auch nicht erforderlich, dass sich eine körperliche Abhängigkeit gebildet hat. Körperliche Abhängigkeit ist also nicht Voraussetzung. Jedoch ist eine körperliche Abhängigkeit meist hinreichend für einen Hang nach § 64 StGB. Beim Auftreten körperlicher Entzugserscheinungen wird ein Hang in der Prozesspraxis kaum mehr auszuschließen sein.
Wann liegt ein Hang im Sinne des § 64 StGB vor
Ein Hang liegt vor, wenn der Täter eine – auf psychische Disposition oder durch Übung erworbene – intensive Neigung hat, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu konsumieren und somit eine psychische Abhängigkeit besteht, aufgrund derer er sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (stRspr BGH NStZ-RR 2003, 106 (107); 2006, 103; 2009, 383; 2011, 242; 2012, 106 (107); 2012, 271; 2018, 72; 2018, 105; 2019, 175; 2020, 37; 2020, 38; NJW 1995, 3131 (3133); NStZ 2019, 265; BeckRS 2015, 20780; 2017, 114480; 2017, 103567; 2017, 140993; 2018, 1756; 2019, 16746; 2019, 30604).
1. Von einem Hang ist auszugehen, wenn eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung besteht, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad physischer Abhängigkeit erreicht haben muss. „Im Übermaß” bedeutet, dass der Täter berauschende Mittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt werden.
2. Kommt das Gericht lediglich zu dem Ergebnis, ein Hang sei als Grundlage der Tat nicht auszuschließen, so ist für eine Unterbringung kein Raum. (Ls d. Schriftltg.)
BGH, Beschluß vom 6. 11. 2002, 1 StR 382/02 (LG Bamberg)
Zwischenzeitliche Phasen verringerten Konsums oder sogar von Absintenz verhindern nicht per se eine Unterbringung nach § 64 StGB:
Der Hang, Rauschmittel im Übermaß zu konsumieren, kann bei einem Angeklagten, der über einen langen Zeitraum in stetig gestiegenem Maße regelmäßig Betäubungsmittel konsumiert hat, nicht allein unter Verweis darauf verneint werden, dass er in der Lage war, seinen Rauschmittelkonsum kurzzeitig zu verringern oder einzustellen. (Ls d. Schriftltg.)
BGH , Beschl. v. 14.6.2016, 1 StR 219/16 (LG Würzburg)
Ebenso kann eine gezwungene Phase der Abstinenz in der Untersuchungshaft einen Hang erst recht nicht ausschließen.
VORSICHT:
Überzeugt man das Tatgericht von den Voraussetzungen des § 35 BtMG, legt dies die Annahme eines Hanges i.S.d. § 64 nahe (BGH NStZ 2010, 216). Damit gewinnt man nicht die Strafaussetzung zur Therapie sondern bringt seinen Mandanten gegebenenfalls in die längere Unterbringung nach § 64 StGB.
Bereits der „grundsätzlich tägliche“ Konsum von 0,5 g Cannabis legt die Annahme eines beim Angekl. bestehenden Hanges nahe. Auch wenn sich der nicht einschlägig vorbestrafte Angekl. sozial engagiert und zeitweise abstinent lebt, kann im Hinblick darauf, dass die verfahrensgegenständlichen Taten des „in eingeschränkten finanziellen Verhältnissen“ lebenden Angekl. auch dem Erwerb von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum bzw. dessen Finanzierung dienten, die Ursächlichkeit des jahrelangen Missbrauchs von Cannabis für die soziale Gefährdung und soziale Gefährlichkeit des Angekl. nicht verneint werden.
BGH, Beschl. v. 30.7.2019, 2 StR 93/17, NStZ-RR 2020, 37
Die Voraussetzungen für den Hang und der Konsum im Übermaß überschneiden sich teilweise. Meist wird das eine nicht ohne das Andere vorliegen.
Anzeichen für einen Hang nach § 64 StGB:
- Persönlichkeitsverfall (Deprivation)
- Beeinträchtigung der Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit (vgl. BGH NStZ-RR 2019, 107)
- Regelmäßiger Betäubungsmittelkonsum über einen langen Zeitraum
- Substitutionsbehandlung (vgl. BGH NStZ-RR 2018, 13).
Anzeichen für Konsum im Übermaß:
- Konsum in einem Umfang, der Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt (BGH NStZ-RR 2005, 626)
- Soziale Gefährdung aufgrund psychischer Abhängigkeit
- Soziale Gefährlichkeit aufgrund psychischer Abhängigkeit
- Beschaffungskriminalität
- Kontrollverlust über den Konsum
- Unfähigkeit, Konsum im Einzelfall zu begrenzen
Anzeichen für eine zumindest psychische Abhängigkeit:
- Heimlicher Konsum
- Schuldgefühle
- Kontrollverlust
- auffallend aggressives oder resignierendes Verhalten
- Verlust des sozialen Umfeldes
- Arbeitsplatzverlust
- Vorratshaltung
- Vom Konsum bestimmtes Denken
- Interesselosigkeit
Hangbedingte rechtswidrige Tat
Es muss eine rechtswidrige Tat vorliegen, die auf den Hang des Angeklagten zurückgeht.
Die Voraussetzungen für das Zurückgehen auf den Hang sind sehr gering. Die Tat muss einen symptomatischen Zusammenhang mit dem Hang haben. In der Tat muss sich gerade die hangbedingte Gefährlichkeit äußern. Klassisch ist die Beschaffungskriminalität, die Kriminalität zur Begleichung von Drogenschulden oder das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln um vom Gewinn den Eigenkonsum zu finanzieren (technisch auch Beschaffungskriminalität).
1. Die konkrete Anlasstat muss in dem Hang ihre Wurzel finden, also Symptomwert für diesen haben, indem sich in ihr die hangbedingte Gefährlichkeit des Täters äußert. Hat er mehrere Taten begangen, so reicht es aus, wenn ein Teil von ihnen auf den Hang zurückzuführen ist. Gleiches gilt für einen abgrenzbaren Teil einer einheitlichen Tat.
2. Der symptomatische Zusammenhang setzt eine gewisse Erheblichkeit der Anlasstat voraus. Ist allein ein Teil der begangenen Tat(en) – zumindest auch – auf den Hang zurückzuführen, so gilt dieses Erfordernis für den jeweiligen Teil. An das Merkmal der Erheblichkeit sind nur geringe Anforderungen zu stellen. Jedenfalls scheiden aber bloße Bagatellfälle als Grundlage für die Anordnung der Maßregel aus.
3. Für die Annahme der Voraussetzungen des § 64 StGB, mithin auch des symptomatischen Zusammenhangs, infolge der Anwendung des Zweifelssatzes ist – anders als etwa bei der Frage verminderter Schuldfähigkeit nach § 21 StGB – kein Raum. (Ls d. Schriftltg.)
BGH, Urt. v. 27.6.2019, 3 StR 443/18
Die Tat ist nicht hangbedingt, wenn sie nicht dergestalt auf den Hang zurückgeht, dass bei erfolgreicher Therapie die Gefährlichkeit des Täters nahezu unverändert weiter bestünde (BGH NStZ 2003, 86). Das ist zum Beispiel beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln der Fall, das lediglich der Finanzierung des allgemeinen Lebensbedarfs dienten (BGH NStZ-RR 2016, 113; 2016, 173; 2020, 208).
Beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln kann der symptomatische Zusammenhang fehlen, wenn das Handeltreiben alleine der Finanzierung des allgemeinen Lebensbedarfs dienen (BGH NStZ 2009, 204 (205)).
Gefahrprognose
Für die Unterbringung nach § 64 StGB muss außerdem die Gefahr bestehen, dass der Angeklagte infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.
Das ist der Fall, wenn die begründete Wahrscheinlichkeit für die Begehung erheblicher Straftaten vorliegt. Mit einer Wiederholung muss zu rechnen sein. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus.
Für eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hingegen ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die „begründete“ Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer erheblicher Straftaten erforderlich (BGH, Urteil vom 21. September 1993 – 4 StR 374/93, NStZ 1994, 30, 31; ebenso Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, StGB, 29. Aufl., § 64 Rn. 12; vgl. auch BGH, Urteil vom 7. Mai 1991 – 1 StR 141/91); es muss mit einer Wiederholung „zu rechnen“ (BGH, Beschluss vom 29. August 2018 – 4 StR 248/18), dies muss „konkret (zu) besorgen“ sein (BGH, Beschluss vom 8. Mai 2008 – 3 StR 148/08, NStZ-RR 2008, 234; OLG Koblenz, Beschluss vom 27. Oktober 2010 – 2 Ss 170/10). Die bloße Wiederholungsmöglichkeit genügt nicht (BGH, Urteil vom 21. September 1993 aaO; Urteil vom 11. Dezember 1990 – 1 StR 611/90, BGHR StGB § 64 Abs. 1 Gefährlichkeit 3; Beschluss vom 6. Dezember 1996 – 2 StR 608/96, BGHR StGB § 64 Abs. 1 Gefährlichkeit 6).
BGH, Urt. v. 22.11.2018, 4 StR 356/18
Die zu erwartenden Taten müssen auch “erheblich” sein.
Die Voraussetzungen an die Erheblichkeit ist bei § 64 StGB niedriger als bei § 63 StGB, da jener Eingriff deutlich schwerwiegender ist.
Allein die Gefahr des Erwerbs geringer Betäubungsmittelmengen zum Eigenkonsum kann die Unterbringung gemäß § 64 StGB indes nicht rechtfertigen (vgl. BGH NStZ 1994, 280; BeckRS 2004, 08119; OLG Koblenz BeckRS 2011, 01377; Körner, BtMG, 6. Aufl., § 35 Rdn. 494; Weber, BtMG, 3. Aufl., Vorbem. zu §§ 29 ff. Rdn. 1181).
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.11.2011, 3 RVs 138/11
Erfolgsaussicht der Therapie
Voraussetzung für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB ist, dass eine hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolgs besteht (BGH NStZ 2009, 442; BeckRS 2008, 00694; vgl. zur aF BGH NStZ-RR 2005, 10).
Nach § 64 I 2 StGB ergeht die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen. Diese Erfolgsaussicht muss positiv festgestellt werden.
Es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür sprechen, dass es innerhalb eines zumindest erheblichen Zeitraums nicht zu einem Rückfall kommen wird. Erfolglose frühere Behandlungen in Unterbringung nach § 64 können der Annahme von Erfolgsaussicht entgegenstehen. Dass möglicherweise auch andere Maßnahmen erfolgversprechend sind, ist unschädlich. Bereits absolvierte Therapieversuche mit Rückfall oder gescheiterte Entgiftungen stehen der Erfolgsaussicht nicht grundsätzlich entgegen, sofern der Angeklagte Therapiemotivation zeigt. Es ist umstritten, ob eine Sucht dauerhaft heilbar ist. Daher ist es bereits ein konkreter Behandlungserfolg, wenn über eine erhebliche Zeit vor einem Rückfall bewahrt wird.
Zusätzlich zum Behandlungserfolg muss auch die Aussicht gegeben sein, von der Begehung weiterer erheblicher Hangtaten abzuhalten.
Wie lange dauert die Unterbringung nach § 64 StGB?
Die Unterbringung nach § 64 StGB ist zeitlich begrenzt. Das ist einer der gravierenden Unterschiede zu § 63 StGB.
Dauer der Unterbringung
Die Unterbringung dauert im Durchschnitt grob eineinhalb bis vier Jahre. Die Dauer ist insbesondere auch davon abhängig, ob neben Abhängigkeit auch Persönlichkeitsstörungen vorliegen, die zeitintensive Zusatzbehandlungen erforderlich machen.
Die Unterbringung nach § 64 StGB darf nach § 67d I 1 StGB die Dauer von zwei Jahren nicht überschreiten. Dabei handelt es sich aber lediglich um eine Grundfrist. Die Grundfrist verlängert sich um die auf die Strafe anrechenbare Zeit. Das sind in der Regel 2/3 der ausgeurteilten Freiheitsstrafe.
Beispiel: Vier Jahre sechs Monate Freiheitsstrafe, Unterbringung angeordnet: Maximale Unterbringungszeit: 5 Jahre = 2 Jahre + 3 Jahre (2/3 von 4J6M)
Vollstreckungsreihenfolge bei § 64 StGB
In der Regel wird die Unterbringung im Betäubungsmittelstrafrecht neben einer Freiheitsstrafe angeordnet. Nach § 67 I StGB ist die Unterbringung grundsätzlich vor der Freiheitsstrafe zu vollziehe. Das bedeutet, dass erst die Unterbringung erfolgt und nach Abschluss der Unterbringung der Rest der Freiheitsstrafe vollstreckt wird.
In der Praxis ist das aber selten der Fall.
Vorwegvollzug
Wird die Unterbringung nach § 64 StGB neben einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren angeordnet, dann soll nach § 67 II StGB das Gericht anordnen, dass ein Teil der Maßregel vor der Strafe zu vollziehen ist.
Vorwegvollzug bedeutet, dass die klassische Vollstreckungsreihenfolge ungedreht wird. Es wird also ein Teil der Freiheitsstrafe vor der Unterbringung vollstreckt. Bei Freiheitsstrafen von mehr als drei Jahren mit Unterbringung in einer Entziehungsanstalt soll das Gericht Vorwegvollzug anordnen.
Die Maßregel wird auf die Freiheitsstrafe angerechnet bis 2/3 vollstreckt sind. Schon bei Vollstreckung der Hälfte (Halbstrafe) kann der Untergebrachte die Strafaussetzung zur Bewährung beantragen. Denkbar ist dann auch eine Strafaussetzung zur Therapie nach § 35 BtMG wenn die Voraussetzungen für eine Strafaussetzung zur Bewährung nicht vorliegen.
Dauer des Vorwegvollzuges
§ 67 II StGB Faustregel: Hälfte der Begleitfreiheitsstrafe minus voraussichtliche Therapiedauer. Untersuchungshaft wird angerechnet.
Die Therapiedauer wird in der Praxis und Rechtsprechung nicht mit mehr als zwei Jahren prognostiziert.
Vorwegvollzug ist also immer dann konkret zu erwarten, wenn bei Rechtskraft noch mehr als vier Jahre Freiheitsstrafe nicht vollstreckt sind.